Titel
Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876-1933


Autor(en)
Hüntelmann, Axel C.
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karin Stukenbrock, Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin, Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

In medizinhistorischen Arbeiten finden sich immer wieder Hinweise auf das Reichsgesundheitsamt, ohne im Einzelnen auf die Ziele und Aufgaben dieser Institution näher einzugehen. Mit diesem Hinweis auf ein Forschungsdesiderat begründet Axel C. Hüntelmann seine Arbeit über das Reichsgesundheitsamt. Das Ziel dieser am Institut für Geschichte der Universität Bremen als Dissertation angenommenen Arbeit ist es, diese Forschungslücke zu schließen. Nun ist ein Desiderat an sich zwar eine notwendige Voraussetzung, aber kein hinreichendes Motiv für eine immerhin mehr als 480seitige Forschungsarbeit. Interessanter sind deshalb sowohl die Fragestellung als auch die Forschungsperspektive Hüntelmanns, die weit über das Schließen einer historiographischen Lücke hinausgehen. Hüntelmann möchte die „unsichtbare Behörde sichtbar“ (S. 11) machen und sie im Kontext der Verflechtungen von Gesundheit, Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Verwaltung analysieren. Gleichzeitig sollen sich, so Hüntelmann, auf diese Weise Rückschlüsse auf die Machtstrukturen und Funktionsweisen des Deutschen Reiches ziehen lassen. Das Reichsgesundheitsamt dient Hüntelmann gewissermaßen als Brennglas für die Geschichte des Deutschen Reiches. Diese Perspektive ermögliche einen Anschluss an aktuelle Diskussionen über den Wert des Menschen und die spannungsgeladene Auseinandersetzung über das Verhältnis von individuellen Interessen gegenüber den Interessen der Allgemeinheit.

Um diese Ziele einzulösen, betrachtet Hüntelmann die Geschichte der Institution Gesundheitsamt als die Geschichte eines Netzwerkes, das nicht in sich abgeschlossen, sondern in gesellschaftliche Strukturen eingebunden ist. „Es geht einerseits um die Konstituierung und Entwicklung dieser gesundheitspolitischen obersten Reichsbehörde, andererseits um die Ausbalancierung von Machtverhältnissen zwischen den paktierenden und konfligierenden politischen und gesellschaftlichen Interessengruppen.“ (S. 12) Vor diesem forschungstheoretischen Hintergrund lassen sich unterschiedliche Ansätze verknüpfen und Kultur- und Wissenschaftsgeschichte miteinander verbinden.

Zunächst geht Hüntelmann im ersten von insgesamt fünf Kapiteln auf die Vorgeschichte des Gesundheitsamtes ein. Er lässt diese Vorgeschichte mit der Revolution von 1848 beginnen, und ist sich durchaus bewusst, dass eine solche Zäsur – wie jede andere auch – schwer zu begründen ist. Bereits in diesem ersten Kapitel wird die diese Arbeit auszeichnende breite Kontextualisierung in der Anlage des Buches deutlich und führt gleichzeitig vor, was Hüntelmann konkret mit der „Brennglas-Funktion“ meint. Die Gründung des Reichsgesundheitsamtes war keine geradlinige Entwicklung, sondern vielmehr eingebunden in die gesellschaftlichen Diskussionen im Reich. Vor dem Hintergrund der sanitären Probleme in den Städten und des über die Grenzen der Bundesstaaten hinausgehenden Auftretens von Seuchen war die Forderung nach einer reichsweiten Gesundheitsbehörde entstanden. Die konkrete Ausgestaltung dieser Behörde erforderte dann allerdings ein Ausbalancieren verschiedenster Kräfte: auf der einen Seite eine sich professionalisierende Ärzteschaft, die sich in ihrer Zielsetzung durchaus nicht einig war, und auf der anderen Seite eine Politik, die sich in der Verfolgung ihrer Ziele zwischen Gemeinwohl und Eigeninteressen der Einzelstaaten genauso wenig einig war. Am Ende war eine Institution entstanden, die diese Prozesse spiegelte: Sie war lediglich beratend tätig und auf die Unterstützung der Ministerien angewiesen. In diesen Konstellationen musste das Amt in den nachfolgenden Jahren agieren.

Das zweite Kapitel rekonstruiert die institutionelle, personelle und finanzielle Entwicklung der Behörde und folgt dabei der chronologischen Reihung ihrer leitenden Beamten. Jedem der fünf führenden Männer wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Vordergründig entwickelte sich das Gesundheitsamt in dieser Zeit von einer kleinen Behörde zu einer staatlichen Großforschungseinrichtung, die das Reichsamt des Innern in allen medizinalpolizeilichen und gesundheitspolitischen Angelegenheiten beriet. Folgt man Hüntelmann allerdings in die Tiefe, so zeigt sich, dass jede der fünf Episoden ihre eigene Prägung hatte, die nicht zuletzt durch die Persönlichkeiten der Protagonisten und ihre Einbindung in die strukturellen Bedingungen und ihre Netzwerke bestimmt war. So gelang es beispielsweise dem zweiten Präsidenten, Karl Köhler, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger das Vertrauen und die Unterstützung des Reichsinnenministeriums genoss, in der Zeit seiner Präsidentschaft zwischen 1885 und 1905 die positiven Rahmenbedingungen zu nutzen und die Institution sowohl finanziell als auch personell auszuweiten.

Das folgende Kapitel behandelt die Organisation und die Bandbreite der im Gesundheitsamt wahrgenommenen Aufgaben. Um Redundanzen zu vermeiden, geht Hüntelmann hier nicht chronologisch vor, sondern orientiert sich an kontinuierlich bearbeiteten Feldern. Zu den Hauptaufgaben gehörten neben der Beratung die Sammlung und Organisation von Informationen über den Gesundheitszustand der Bevölkerung und von hygienischem Wissen sowie das Knüpfen und Verwalten von Netzwerken (S. 264). Konkrete Themen waren beispielsweise die präventive Seuchenbekämpfung und die Hygiene in ihren unterschiedlichen Facetten. Nach einem deskriptiv gehaltenen Überblick betrachtet Hüntelmann die Arbeitsweise und das Vorgehen der Behörde vertiefend in einer Fallstudie. Anhand der Bekämpfung der Diphtherie, einer durch die hohe Letalität insbesondere bei Kleinkindern sehr emotional besetzten Krankheit, verdeutlicht er die verschiedenen Ebenen der Tätigkeit des Gesundheitsamtes: Sammeln und Beobachten, Forschen sowie – in diesem Fall – die Erarbeitung eines Konzeptes zur staatlichen Kontrolle des Diphtherieheilserums in Zusammenarbeit mit den Einzelstaaten und den Universitäten.

Obwohl das Gesundheitsamt mit dem großen Ziel der „Hebung der Volksgesundheit“ betraut war, blieb es eine Institution, die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Hüntelmann begründet dies mit der verfassungsrechtlichen Stellung des Amtes. Es hatte keine exekutiven Befugnisse und keine nachgeordneten Ämter, so dass es auf der kommunalen Ebene nicht in Erscheinung trat. Diese Arbeit „im Verborgenen“ war lange Zeit gewollt, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren. Erst unter dem Druck knapper werdender Mittel in der Weimarer Republik „musste die Behörde ihre Tätigkeit und ihre Daseinsberechtigung legitimieren“ (S. 263).

Vor diesem weitgehend chronologischen und organisatorischen Hintergrund widmen sich die letzten beiden Kapitel den Handlungsstrategien, und zwar einerseits der Einbindung des Gesundheitsamtes in die Interessen und strategischen Ziele des Staates und andererseits den Handlungsstrategien des Gesundheitsamtes selbst. Das Gesundheitsamt konnte mit seinen Aufgaben sowohl den innen- als auch den außenpolitischen Zielen des Staates dienen. Nach innen galt es, die öffentliche Hygiene zu stärken, um Seuchen zu verhindern. Letztlich unterstützte dies auch die nach außen gerichteten Ziele, nämlich die „Stärkung des Volkskörpers“ zur Unterstützung der „nationalen Wehrhaftigkeit“. Diese Zielsetzungen und Aufgaben spiegeln sich entsprechend in den Handlungsstrategien der Behörde. Sie waren nicht immer geplant, sondern vielmehr eingebettet in die allgemeinen Prozesse. Hier zeigt sich in besonderer Weise die Vielschichtigkeit der Netzwerke. Hüntelmann kommt zu dem Schluss, dass das Gesundheitsamt auch deshalb „so virtuos auf der Beziehungsklaviatur“ spielen konnte, weil es selbst „eine Mischung aus Wissenschaft, Verwaltung, Politik, Ökonomie, Gesellschaft, Kultur, Technik und in der Fremd- und Selbstkonstruktion von Festschriften, Zeitschriften und Akten auch eine Fiktion“ war (S. 407).

Stellt man abschließend die Frage, inwieweit Hüntelmann die Vorgaben seines Forschungsvorhabens erfüllt und das Gesundheitsamt sichtbar gemacht hat, so kann festgestellt werden, dass es ihm gelungen ist, diese Behörde in ihren unterschiedlichen Spannungsfeldern zu analysieren und zu zeigen, wie sich im Untersuchungszeitraum Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur gegenseitig bedingten und eine Einheit bildeten. Konstitutiv dafür war ein Netzwerk von Personen und Institutionen, das es in der Balance zu halten galt. Das Amt selbst hatte damit zu kämpfen, wahrgenommen zu werden – Hüntelmann hat zumindest nachträglich für diese Wahrnehmung gesorgt, indem er die Interdependenzen der Institution aufgezeigt und kontextualisiert hat.

Kritik lässt sich allenfalls punktuell anbringen. Nämlich beispielsweise dann, wenn Hüntelmann mit dem Kriterium „Erfolg“ des Gesundheitsamtes argumentiert. Ohne genauer zu erklären, was „Erfolg“ im Einzelfall bedeutet und ohne zu berücksichtigen, wer den Begriff für welche Zwecke verwendet, wird nicht immer deutlich, wie dieses Kriterium zu bewerten ist. Auch die Basis der zur Bestimmung des „Erfolgs“ herangezogenen Quellen (Festschriften) scheint für die Argumentation nicht immer geeignet. Problematisch ist auch, dass Hüntelmann am Ende der Arbeit mit einem einzigen Satz das eingangs erwähnte aktuelle Problem noch einmal aufgreift und unvermittelt darauf hinweist, dass „Fragen nach dem Wert des Menschen immer unverhohlener gestellt werden“ (S. 416). Dass dies tatsächlich so ist, lässt sich zumindest anzweifeln, und ob an dieser Stelle der kommentarlos verwendete Komparativ angebracht ist, sollte ernsthaft hinterfragt werden. Das Buch hätte dieser Legitimierung durch eine aktuelle Fragestellung jedenfalls nicht bedurft, ist es doch für alle, die sich mit der Geschichte des Gesundheitswesens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigen, eine unverzichtbare Lektüre.

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